Spaziergang durch Praga Süd

Dieser Warschauer Stadtbezirk am rechten Ufer der Weichsel ist ein interessantes Mosaik aus alten Mietskasernen, industriellen und postindustriellen Zonen und grünen Parks. Zu den Wahrzeichen des Stadtteils zählen das Stadion PGE Narodowy, der beliebte Stadtstrand Poniatówka oder der wunderschöne Park Skaryszewski, der Anfang des 20. Jahrhunderts angelegt wurde. Doch die Geschichte dieser Gegend ist sehr viel länger, und der heutige Name irreführend. Das hier gelegene Dorf Kamion, das heutige Kamionek, bestand wahrscheinlich bereits im 11. Jh., während andere Dörfer wie Gocław, Kawęczyn und Grochów zwischen dem 11. und 14. Jh. gegründet wurden.
Es war die Entwicklung von Grochów, die dem heutigen Stadtteil seinen Charakter verlieh. Einer der Meilensteine in der Geschichte der Stadt war der Bau der Straße von Brest zwischen 1820 und 1823, die Prag mit Terespol verband. Dank der Verbindung mit dem Russischen Reich entwickelte sich hier die Industrie. In der zweiten Hälfte des 19. Jh., nach der Eröffnung der Eisenbahnstrecke Warschau-Terespol, entwickelte sich die Stadt noch schneller.
Der Industrie- und Arbeitercharakter von Grochów und Kamionek kontrastiert mit dem intellektuellen und künstlerischen Saska Kępa, einer Einfamilienhaussiedlung, die in den 1930er Jahren auf einer ehemaligen Weichselinsel errichtet wurde. In den Tagen von König Augustus III. Sas war es ein Ort für die Jagd und für höfische Vergnügungen. Später, im 19. und bis ins frühe 20. Jh. hinein, diente Saska Kępa den Einwohnern Warschaus als Erholungsort. Eine spätere Erweiterung des Viertels waren die Wohnblocks Gocław, die in den 1970er Jahren entstanden.
Wenn Sie alle Gesichter von Praga Południe kennenlernen möchten, empfehlen wir Ihnen einen Spaziergang mit unserem Stadtführer.

Die Rogatki Grochowskie sind zwei Gebäude aus dem Jahr 1823, welche die Grenze zwischen Praga und Grochów bildeten. Sie stehen an der Kreuzung der ul. Zamoyskiego und Lubelska. Früher befanden sich in den Gebäuden eine Polizeistation und das Büro des Steuereinnehmers. Im Eckgebäude an der Seite der Fabrik von E. Wedel kann man heute die köstliche Schokolade dieses traditionsreichen Unternehmens probieren. Starten Sie also Ihren langen Spaziergang in Praga Południe mit einer energiespendenden Tasse Schokolade.

Gehen Sie die ul. Grochowska in Richtung des Rondo Wiatraczna entlang. Auf der Hauptverkehrsader Praga Południe werden Sie die Atmosphäre spüren, die ganz anders ist als die des linken Warschauer Ufers. Sie werden den multinationalen Charakter dieses Ortes spüren. In den Straßen hören Sie neben Polnisch auch Ukrainisch, Russisch, Arabisch und Roma. Die niedrigen Wohnungspreise und die kommerzielle Vergangenheit Pragas ziehen Emigranten an. In der Vergangenheit war dies aber auch ein multikultureller Ort. An der Tafel auf dem Platz in der Nähe des Gebäudes zur ul. Grochowska 301/305 sollten Sie einen Moment innehalten. Hier befand sich bis Anfang der 1960er Jahre der Friedhof der Altgläubigen – der konservativen Orthodoxen.

Neben dem ehemaligen Friedhof befindet sich die Fabrik Perun, ein wahrer Schatz der industriellen Siedlung Kamionek. Die Backsteingebäude beherbergten nach 1913 eine Fabrik für Schweißgeräte. Heute wird ein Teil der Hallen für kommerzielle und Unterhaltungszwecke genutzt.

Wenn man weiter in Richtung des Rondo Wiatraczna geht, findet man auf der gegenüberliegenden Seite der ul. Grochowska den Sitz des Orchesters Sinfonia Varsovia, zu dessen Leitern der berühmte Komponist Krzysztof Penderecki gehörte. Derzeit finden die Konzerte in einem Festzelt auf der Rückseite der Gebäude statt, doch bis 2026 soll in den renovierten Gebäuden ein moderner Kulturkomplex mit Konzertsälen entstehen.

Direkt neben dem Sitz der Sinfonia Varsovia befindet sich der gepflegte Park Obwodu Praga Armii Krajowej (Park der Heimatarmee). Den südöstlichen Eingang bildet ein Tor, das vor mehr als 100 Jahren in einer Warschauer Schmiede gefertigt wurde. Vor dem Krieg war es der Eingang zu einem reichen Mietshaus in Śródmieście – dem Stadtzentrum, und nach dem Krieg verfiel es zu einem heruntergekommenen Mietshaus von Grochów. Nach der Renovierung im Jahr 2003 wurde es zum Eingangstor des Parks.

Rund 100 Meter weiter findet man in der ul. Grochowska eine weitere Sehenswürdigkeit. Es handelt sich um das inzwischen etwas in Vergessenheit geratene Denkmal für den Bau der Verbindungsstraße nach Brest. Der 14 Meter hohe gusseiserne Obelisk wurde 1825 zum Gedenken an den Bau der Trasse zwischen Prag und Terespol enthüllt. Die Gemälde auf dem Obelisken zeigen Panoramabilder der entlang der Straße gelegenen Städte und die Etappen ihres Baus. Der gleiche Obelisk befindet sich am anderen Ende der ehemaligen Straße in Terespol.

Während des Novemberaufstands war Grochów Schauplatz schwerer Kämpfe zwischen den Aufständischen und den Russen, die die Außenbezirke von Warschau angriffen. Eines dieser Gefechte fand am 25. Februar 1831 im Wald von Olszynka Grochowska statt. Um dorthin zu gelangen, gehen Sie die ul. Grochowska entlang bis zum etwa 2 km entfernten Plac Szembeka, über dem die historische Kirche des Reinsten Herzens Mariens thront. Diese wurde zum Gedenken an den 100. Jahrestag der Schlacht von Olszynka Grochowska errichtet und ist eines der letzten neugotischen Gebäude in Warschau mit Innenräumen im Art-déco-Stil, der in den 1930er Jahren in Mode war. Beim Ausheben der Fundamente wurden hier zwei Massengräber von Aufständischen des Novemberaufstandes gefunden.

Wenn Sie den Plac Szembeka hinter sich gelassen haben, biegen Sie links in die ul. Chłopickiego und dann in die ul. Szaserów und Podolska ein, um das Naturschutzgebiet Olszynka Grochowska zu erreichen, wo einer der Waldwege zum Denkmal für die Gefallenen der Schlacht von Grochów führt. Das Denkmal trägt eine Gedenktafel, auf der die Inschrift zu lesen ist: „Passanten! Sagt euren Mitbrüdern, dass wir tapfer gekämpft haben und ohne Angst gestorben sind. Aber mit der Sorge um das Schicksal Polens, um das Schicksal der künftigen Generationen – um Euer Schicksal“.

Auf dem Rückweg vom Reservat über dieselbe Strecke machen Sie in der ul. Podolska 28 kurz Halt. Hier finden Sie den Mineralwasserbetrieb Wytwórnia Wód Gazowanych „Ronisz“, der seit 1948 ununterbrochen besteht. Dieser stellt klassische Orangenlimonaden her, deren Zusammensetzung sich seit der Eröffnung der Fabrik nicht verändert hat. Diese Fabrik ist ein Beispiel für den angeborenen Unternehmergeist der Einwohner von Grochów, gab es doch früher hier viel mehr familiengeführte Betriebe. Ein weiterer Betrieb befindet sich in der ul. Kordeckiego 48. In diesem Mietshaus ist unter der Nummer 1 der Weihnachtskugelhersteller Fogiel beheimatet. Seit 1948 wird hier in dritter Generation Christbaumschmuck hergestellt, und die meisten Kugeln werden in die USA exportiert.

Ein weiteres Beispiel für das Unternehmertum von Grochów ist am Rondo Wiatraczna zu finden. Seit 1958 besteht hier die Konditorei „Rurki z Wiatraka“, die kultige, mit Schlagsahne gefüllte Röhrchen verkauft.

Praga Południe ist der offizielle Name des Bezirks. Ein Einwohner von Grochów wird deshalb nie sagen, dass er aus Praga kommt: Er ist immer aus Grochów! Lokale Verbundenheit ist hier sehr wichtig, denn die Bewohner der Mietshäuser kennen sich seit Generationen.

Wenn Sie eine atmosphärische Wohnsiedlung mit guten nachbarschaftlichen Beziehungen erleben möchten, sollten Sie unbedingt die Kolonia Towarzystwa Osiedli Robotniczych (Siedlung der Arbeiterwohnungsbaugesellschaft) in der ul. Podskarbińska 7, 7A, 7B und 9 besuchen. Die in den 1930er Jahren errichteten Mietshäuser mit modernistischem Akzent werden von den Nachfahren der ersten hier ansässigen armen Arbeiterfamilien bewohnt. Wenn Sie zwischen den Gebäuden spazieren gehen, sehen Sie Bewohner auf einer Bank sitzen, Blumenbeete und Wäsche, die im Wind trocknet.

Rund einen halben Kilometer weiter im Osten verläuft die ul. Kickiego, in der sich in den Gebäuden mit den Nummern 9 und 12 die Studentenheime befinden, die für ihre unvergleichlichen Partys bekannt sind. Hier wohnen Studenten aus vielen Teilen Polens und der Welt. Die Wohnheime „an der Kic“, d.h. der „Kickiego“, waren oft die Heimat mehrerer später bekannter Musiker, Unternehmer oder Medienpersönlichkeiten. Einer von ihnen war Muniek Staszczyk, der den Text des Schlagers „Warszawa“ verfasste. Interessanterweise haben viele der Bewohner dieser Wohnheime das Klima von Grochów so sehr genossen, dass sie sich später in der Nähe niederließen. Wenn Sie dort vorbeikommen, sollten Sie unbedingt im Antiquariat Grochów vorbeischauen, wo 130.000 Bücher zum Verkauf bereitstehen.

Und noch ein weiterer sehenswerter Ort in diesem Viertel der Stadt… In einer der berühmtesten polnischen Filmkomödien singt ein zweitklassiger Trainer namens Jarząbek ein Loblied zu Ehren des Club-Vorsitzenden Ochódzki und wird dabei von einem in einem Schrank versteckten Tonbandgerät aufgenommen. Diese Szene stammt aus dem Film „Miś“ (Teddybär) und wurde in Grochów im Originalzimmer des Vorsitzenden des Sportvereins „Orzeł“ in der ul. Podskarbińska 14 aufgenommen. Das Zimmer, das genauso eingerichtet ist wie im Film, existiert noch heute! Es kann während der „Nacht der Museen“, die jedes Jahr im Mai stattfindet, besichtigt werden.

Praga Południe ist ein Ort, an dem früher viele Industrieanlagen in Betrieb waren. Einige wenige produzieren zwar noch immer, viele von ihnen, vor allem die ältesten in Grochów und Kamionek, wurden geschlossen. Postindustrielle, baufällige Gebäude wurden in den letzten Jahren revitalisiert und in öffentliche Einrichtungen umgewandelt. Das bekannteste Beispiel ist die Soho-Fabrik in der ul. Mińska 25, die eine Fläche von 8 Hektar umfasst, wo einst die Fabrik Jutowa, die Munitionsfabrik „Pocisk“ und die Warschauer Motorradfabrik untergebracht waren, in der die berühmten Osa-Roller und SHL-Motorräder hergestellt wurden. Heute sind in den alten Gebäuden Büros, Restaurants und Designerläden angesiedelt. Das wichtigste Objekt ist jedoch das Neon-Museum, das in einer alten Lagerhalle eingerichtet wurde und restaurierte, leuchtende Werbeplakate von den Straßen vieler polnischer Städte ausstellt.

Die Gebäude der ehemaligen Fabrik Polskie Zakłady Optyczne (Polnische Optische Werke) in der ul. Grochowska 316 wurden gleichfalls revitalisiert. Die Fabrik, die in einem modernistischen Gebäude aus den 1920er Jahren untergebracht ist, stellte Mikroskope, Ferngläser und auch Periskope für U-Boote her. Heute beherbergt das Gebäude Büros und Restaurants. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um sich in einem der Räume im Erdgeschoss des Gebäudes zu entspannen.

Lenken Sie nun Ihre Schritte zum Skaryszewski-Park, einem der größten und malerischsten Parks in Warschau, der zwischen 1905 und 1916 auf einem ehemaligen Weideland angelegt wurde. Das Parkgelände ist ungemein abwechslungsreich: Wilde Waldabschnitte, Hügel, alte Bäume und ruhige Alleen sowie herausragende Skulpturen, allen voran die berühmte „Tänzerin“. Der Park grenzt an den malerischen See Jezioro Kamionkowskie, der von zahlreichen Kanälen gespeist wird und bis ins 20. Jh. mit der Weichsel verbunden war. Der See ist ein wahres Naturparadies, mit einer Vielzahl von Vögeln und Fischen. Auf der Insel am Südufer des Sees befindet sich eine Biberkolonie, und wer genau hinsieht, kann vielleicht ein schwimmendes Nagetier entdecken… In der Hochsaison können Sie auch das Angebot der Anlegestelle Park Skaryszewski „Przystań“ nutzen, z.B. Pizza essen, ein Bier trinken oder ein Kanu mieten und damit auf dem See herumschippern.

Unweit des Sees befindet sich ein gepflegter Rosengarten im französischen Stil mit einer Gedenkstätte für die britischen Flieger, die den Aufständischen in Warschau Hilfe zukommen ließen. Am 14. August 1944 wurde ihr Flugzeug über dem See Jezioro Kamionkowskie abgeschossen.

Im Sommer riecht man den Duft der Schokolade schon von hier aus. Dieser stammt aus dem Werk des Unternehmens E. Wedel auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, das hier seit den 1930er Jahren in ganz Polen heiß geliebte Süßigkeiten herstellt. In der Fabrik befindet sich auch ein Museum, in dem du erfährst, wie diese köstlichen Produkte hergestellt werden.

Gehen Sie dann auf die andere Seite der ul. Międzynarodowa, wo sich eine große grüne Wiese befindet, die von Kanälen umgeben ist. Hier muss wohl im Jahr 1573 die erste freie Wahl in Polen, genauer: die Wahl des polnischen Königs durch den Adel, stattgefunden haben. Heute ist dies ein Ort für Picknicks, Sonnenbäder und zum Spielen mit Hunden. Nehmen Sie sich hier einen Moment Zeit und ruhen Sie sich aus.

Wenn Sie den Kanał Wystawowy entlang gehen, der durch die Kamionkowskie Błonia Elekcyjne verläuft, gelangen Sie zum See Jezioro Gocławskie. In seiner Nähe wurde die Wohnsiedlung Przyczółek Grochowski angelegt, die… aus nur einem Wohnblock besteht. Aber was für einer! Diesen 1,8 km langen, M-förmigen Moloch bilden 22 miteinander verbundene Gebäude. Jede Wohnung hat hier eine eigene Adresse – insgesamt gibt es 1.800 Wohnungen. Innerhalb dieser M-Form wurden drei separate Innenhöfe geschaffen.
Das Gebäude wurde 1974 in Auftrag gegeben und war trotz seiner interessanten architektonischen Lösungen ein gescheitertes Experiment, denn es war laut, unsicher und die Wohnverhältnisse nicht gerade sehr angenehm. Der Block, der den Spitznamen „Peking“ abbekam, diente als Kulisse für zahlreiche Filmproduktionen, darunter die Fernsehserie „Stawiam na Tolka Banana“ (Ich halte es mit Tolek Banan).
Heute, Jahre später, ist es ein interessanter Ort, an dem man spazieren gehen und architektonische Ideen aus einer früheren Epoche bestaunen kann. Und wie die Einwohner sagen, ist es dort endlich sicher.

Wenn Sie einen Moment zum Verschnaufen brauchen, dann schauen Sie in dem einen Kilometer entfernten Park Nad Balatonem vorbei, wo Sie sich am Wasser entspannen können. Kinder begeistern sich besonders für die Skulptur von Cyril, der unabhängigen Katze, die hier steht.

Im Anschluss an die Besichtigung der Wohnsiedlungen im kommunistischen Stil fahren Sie nach Saska Kępa, wo Sie eine Wohnsiedlung im Stil der Zwischenkriegszeit begeistern wird. Nach der Eröffnung der Poniatowski-Brücke im Jahr 1913 wurde dieser Ort für Bauvorhaben attraktiv und erlebte in den 1920er und 1930er Jahren einen wahren Boom.

Die ältesten Gebäude der Siedlung sind die 1926 errichtete Kolonia Łaskiego an der ul. Obrońców, der Katowicka und der Dąbrowiecka. Die Häuser hier sind im Stil der polnischen Herrenhäuser gehalten, die zu dieser Zeit in Mode waren. Spätere Gebäude in Saska Kępa wurden bereits in einem modernistischen und funktionalen Stil angelegt. Das beste Beispiel für die Architektur dieses Zeitraums ist das dreiteilige Gebäude der Familie Lachert in der ul. Katowicka 9/11/11A.

Um die Vielfalt von Saska Kępa kennenzulernen, sollten Sie auch das Holzhaus der Familie Przybytkowski in der ul. Walecznych 37, das modernistische Haus von Lucjan Korngold in der ul. Królowej Aldony Straße 3 und die Art-déco-Villa von Felicja Trębicka in der ul. Obrońców 25 besichtigen. Des Weiteren empfehlen wir Ihnen, Saska Kępa auf eigene Faust und ohne Führer zu erkunden, denn an jeder Ecke wartet überraschende Architektur auf Sie.

Die vielleicht bekannteste Einwohnerin von Saska Kępa war die Dichterin und Liedermacherin Agnieszka Osiecka. Im Jahr 2007 wurde an der Kreuzung der ul. Francuska zur ul. Obrońców ein Denkmal für sie enthüllt. An dieser Stelle sollten Sie Ihren Spaziergang durch Praga Południe beenden. In der ul. Francuska, einem der gastronomischen Zentren Warschaus, warten Restaurants und Cafés auf Sie.